Bjørn Melhus

Versteckte Realitäten aufdecken

„Meine Arbeit kann als persönliche Auseinandersetzung mit der Medienwelt verstanden werden und reflektiert deren Einfluss auf unsere Gesellschaft.“

Der deutsch-norwegische Videokünstler Bjørn Melhus ist ein Meister des subversiven Erzählens mit einem Sinn für schwarzen Humor. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit bekannten Figuren, Themen und Szenen aus vornehmlich amerikanischen Filmen und TV-Sendungen und rekontextualisiert diese Stereotype mit den Mitteln des Reenactments. Ausgangspunkt seiner Projekte ist vorhandenes Audiomaterial, das Melhus zu neuen überspitzten Geschichten zusammenfügt und somit Schlaglichter auf Realitäten und Fragen in heutigen Gesellschaften wirft.

Melhus tritt in all seinen Projekten selbst in Erscheinung und verkörpert die großen Mythen der Popkultur in immer wechselnden Masken, Kostümen und Settings. Im Sinne eines wachsenden Stammbaums fertigt Melhus unter dem Titel Headshots (seit 1991) von jeder Figur ein Porträt an und entwickelt sie oftmals über mehrere Projekte hinweg weiter. Die Hauptfigur aus Auto Center Drive (2003) etwa taucht gealtert in The Meadow (2007) wieder auf und könnte in einer der künftigen Geschichten nochmals eine Rolle spielen.

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The Theory of Freedom, Kunsthal Rotterdam, 2015, Foto: Bjørn Melhus

Melhus’ Arbeiten haben die ästhetische Dichte von Spielfilmen und wurden auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt. Sein Werk wurde zudem in renommierten Kunstinstitutionen ausgestellt wie dem Museum of Modern Art, in der Tate Modern, im Centre Pompidou, Museum Ludwig und in der Pinakothek der Moderne. Als Professor für Bildende Kunst und Virtuelle Realitäten vermittelt Melhus seine spezifischen Erfahrungen und Kenntnisse an Studenten der Kunsthochschule Kassel.

Bjørn Melhus über seine Arbeitsweise und
seine Teilnahme an Forecast

Was beschäftigt mich zurzeit, woran arbeite ich?

Im Moment arbeite ich an einem Film, der die Mondlandung 1969 als eines der größten Medienereignisse der Geschichte mit dem Vietnam-Krieg verbindet, dem am meisten mediatisierten Krieg der Geschichte. Das heutige Vietnam ist sozialistisch und gleichzeitig vom Kapitalismus und Konsumismus geprägt. Der öffentliche Raum ist gerade dabei, sich in Privateigentum umzuwandeln. Unzählige Luxus-Ressorts entstehen entlang der Küste von Vietnam. Dieser Film ist sowohl eine Dokumentation als auch ein experimenteller Spielfilm, indem die verschiedenen Ebenen der medialen Repräsentation und der Wirklichkeit ineinandergreifen. Ich bin daran interessiert, mit Genres und Formaten zu spielen. Mein nächstes Projekt wird ein Science-Fiction-Film sein.

Welche Fragen oder Herausforderungen mit Blick auf die Zukunft wecken mein Interesse?

Unsere heutige Welt scheint in einem freien Fall. Da unsere Realität weiter außer Kontrolle gerät, gleiten wir immer mehr ab in virtuelle Realitäten und in Repräsentationen dessen, was wir „Welt“ nennen. Ich denke, dass wir gerade eine der größten Umwälzungen in der Menschheit erleben, verursacht durch die digitale Revolution, die sich seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch weiter verstärkt hat. Ich bin daran interessiert, wie sich unser soziales Verhalten ändert, und wie dies durch die Verwendung von digitalen Medien beeinflusst wird.

Wie viel Einsamkeit wird durch die Vernetzung verursacht? Wie viel gestalten wir selbst oder wie viel Kontrolle überlassen wir dem „glücklichen“ kapitalistischen Konsumismus, der langsam alle Teile der Welt erobert? Und was ist mit Liebe, Depression und unserer eigenen Sterblichkeit in Zeiten der künstlichen Intelligenz? Welche Zukunft hat eine Gesellschaft, die immer unausgeglichener und ungerechter wird? Was sehen wir eigentlich? Was nicht? Wir können nicht in die Zukunft blicken, ohne zugleich die Gegenwart und die Vergangenheit zu beachten. Unsere Gesellschaft basiert auf Erzählungen, die in verschiedenen Medien gespeichert sind. Wie können wir Brücken schlagen, um die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden – mittels der Rekontextualisierung bestehender Medienarchive und Literatur? Ist es nicht wieder an der Zeit, utopische Ideen zu entwickeln? Gibt es dafür genügend „Platz“ in einer Gegenwart, die bereits eine Dystopie geworden ist? Wo und wie können wir uns politisch in einer eher post-demokratischen Welt positionieren?

Wie gehe ich bei meiner Arbeit vor?

Ich beginne meine Projekte mit einer umfangreichen künstlerischen Recherche. Wenn ich mich für ein bestimmtes Thema interessiere, verbringe ich Wochen und Monate damit, mich durch Websites, Bücher und Filme zu graben. Die gesammelten Informationen dienen als Nährboden für das wachsende Projekt. Man muss für alle Aspekte empfänglich bleiben und alle Richtungen in Erwägung ziehen, in die sich das Projekt entwickeln könnte. Schreiben hilft zur Klärung; die Medien haben dem Inhalt zu folgen, und nicht umgekehrt. Der nächste Schritt ist das Auswählen von Auszügen aus Archiven der Pop-Kultur wie Filmen, Fernsehsendungen und anderen Quellen.

In einem langen Bearbeitungsprozess versuche ich, meine gesuchten und gefunden Auszüge in neuen vielschichtigen Erzählungen zu rekontextualisieren. Einige von ihnen können auf ihren Ursprung und ihre sozial-politischen Kontexte zurückgeführt werden. Die letzte Phase umfasst die eigentliche Produktion, Postproduktion und Präsentation. Materialität ist ganz wesentlich. Man sollte das Medium, mit dem man arbeitet, nicht nur verstehen – man sollte es lieben! Ich liebe die Videobearbeitung, bei der jedes einzelne Bild wichtig ist. Ich liebe das Experimentieren mit bewegten Bildern und Ton. Das Schauspiel der Massenmedien kreiert Illusionen. Indem einige dieser Illusionen neu zusammengefügt oder auf Wiederholungen reduziert werden, können Momente der „Wahrheit“ entstehen.

Nicht zuletzt spielt auch Humor eine wichtige Rolle in meiner künstlerischen Arbeit, weil man mit Humor oftmals verborgene Realitäten aufdecken oder einfach die nackte Wahrheit aufzeigen kann. Humor bietet die Möglichkeit, einen Schritt herauszutreten, um etwas Distanz zu bekommen. Dies kann in den tragischsten Momenten helfen. Die größten Probleme der Welt können mittels Humor angesprochen werden.

Warum ich an Forecast teilnehme?

Ich denke, dass Forecast durch die internationale Ausschreibung eine einzigartige Möglichkeit für Begegnungen zwischen Mentor und Mentee bietet. Ich bin sehr gespannt auf die Resonanz. Das Konzept verspricht die Möglichkeit, einen Austausch zu schaffen, der sonst nicht stattfinden würde.

Was interessiert mich am Mentoring-Prozess? Was biete ich einem Mentee?

Nach mehr als 13 Jahren der Zusammenarbeit mit Studierenden bin ich mit dem Mentoring bestens vertraut. Der Mentoring-Prozess sollte ein Dialog sein. Sowohl Mentor als auch Mentee sollte in der Lage sein, zuzuhören und sich zu artikulieren. Ich bin gespannt und bereit, mich überraschen und inspirieren zu lassen und so viel Feedback wie möglich zu geben. Als Mentor bringe ich 30 Jahre Erfahrung in dem Feld mit, in dem ich arbeite. Über die Zeit des Mentorings werde ich dem Mentee durch alle Phasen des Produktionsprozesses führen und würde eher Fragen stellen als Antworten liefern. Der Weg entsteht beim Gehen.

Wer kann sich bewerben?

Vorzugsweise visuelle Künstler, die mit zeitbasierten Medien arbeiten, mit bewegten Bildern und Installation – aber auch Fotografie. Die Medien sollten dem Inhalt folgen; deshalb bin ich tatsächlich offen für jede Arbeitsweise. Jede Art von Interdisziplinarität ist willkommen, aber nicht zwingend. Praktisch kann ich die meisten Ratschläge in jenen Bereichen geben, in denen ich selbst arbeite, aber das Konzept kann in alle Richtungen gehen. Der Bewerber sollte mit meinem Werk vertraut sein und es verstehen – und er sollte beschreiben können, warum sie oder er mit mir als Mentor arbeiten möchte.

 

Erfahre mehr über Bjørn Melhus’ Arbeit.